D.Einheit.htm
Tag der Deutschen Einheit 1998
Festakt in Hannover
Die Feiern zum Tag der Deutschen Einheit fanden in diesem Jahr in der Hauptstadt des
Landes Niedersachsen statt. Gastgeber für die Feierlichkeiten zum 3. Oktober ist
alljährlich das Bundesland, das den Präsidenten des Bundesrates stellt.
Die Feiern in Hannover begannen mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Marktkirche.
Darauf folgte der offizielle Festakt im Kuppelsaal des Kongreßzentrums Hannover.
Rede des Präsidenten des Bundesrates
Der Präsident des Bundesrates und Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Gerhard
Schröder, hielt bei dem Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober
1998 in Hannover folgende Rede:
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Frau Herzog,
sehr geehrter Herr Staatspräsident Havel,
sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Präsident Santer,
sehr geehrte Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts,
sehr geehrte Frau Ministerin Mihaylova,
Exzellenzen, Eminenz,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
es ist mir eine Freude, Sie als Präsident des deutschen Bundesrates heute zu begrüßen
und in Hannover herzlich willkommen zu heißen.
Ich hoffe natürlich, daß dies ein besonders schöner Tag wird. Ich bin sicher, daß
Hannover trotz der kalten Temperaturen seinen originellen und aufrichtigen Charme
für Sie spielen läßt so, daß Sie am Ende dieses Tages vielleicht ein wenig den
Hauch von Wehmut verstehen, den ich bei aller sonstigen Freude verspüre, wenn ich demnächst
dieser Stadt mehr oder weniger häufig den Rücken kehren werde. Man muß das ja nicht
überhöhen; aber Heimatgefühle sollten an einem solchen Tag der Deutschen Einheit
ja ruhig auch eine Rolle spielen. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch ein letztes Wort
zu den hinter uns liegenden Wahlen sagen. Ich denke, wir alle
können froh sein und stolz auf die demokratische Reife unseres Volkes, daß es die
rechtsradikalen Parteien weder im Bund noch bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern
zu nennenswerter Stärke gebracht haben. Das darf uns aber nicht
dazu verleiten, die Ursachen aus dem Blick zu verlieren, die dazu geführt haben, daß
noch bei der Wahl in Sachsen-Anhalt an die 200 000 vor allem junge Leute ihre Stimme
einer rechtsextremen Partei gegeben haben.
Ich sage das hier auch und vor allem den vielen Jugendlichen, die wir heute eingeladen
haben, mit uns den Tag der Deutschen Einheit zu feiern. Es kann, darf und es wird
niemandem gleichgültig sein, wenn etwa im Osten Deutschlands nach wie vor mehr als
100 000 Ausbildungsplätze fehlen. Und es läßt mich auch nicht gleichgültig, wenn ich lese,
was der 25jährige Handballspieler Stefan Kretzschmar schreibt, der seit drei Jahren
in Magdeburg lebt. "Hier ist die Frustration allgegenwärtig", sagt er. "Jeden Monat
ziehen 1000 Menschen weg aus der Stadt, weil sie keine Perspektiven mehr für sich sehen."
Er fragt sich, "wann die Rechtsradikalen sich zum ersten Mal wieder trauen, ihre
Aufmärsche zu machen" und er fragt sich, "wie man gegen diesen Haß ankommt".
Es geht hier nicht um die Stadt Magdeburg. Ich weiß, welch große Anstrengungen gerade
dort unternommen werden, zum Beispiel im Bereich der Stadtsanierung, um den Menschen
Perspektiven zu geben. Aber wir alle dürfen in diesen Anstrengungen eben nicht nachlassen, müssen sie noch verstärken, wenn wir es ernst meinen: die Jugendlichen einsteigen
zu lassen in unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben.
Dazu gehört eben auch der Einstieg in die politische Gestaltung. Joachim Gauck, dessen
Verdienste um den deutschen Einigungsprozeß hoch geschätzt sind, hat erst in diesen
Tagen wieder "Fremdheit und Frust gegenüber der Politikwelt des Westens" beklagt
und gesagt, "bürgerrechtliches Selbstbewußtsein" sei vor allem im Osten Deutschlands immer
noch "Mangelware". Man kann das, gerade mit Blick auf die letzten Wahlergebnisse,
auch optimistischer sehen. Aber im Kern gilt die Aufforderung an uns alle : zu mehr
Beteiligung und zur Schaffung von mehr Beteiligungs-Möglichkeiten.
Zur Auseinandersetzung mit dem Radikalismus gehört aber schließlich auch unser Umgang
mit der Geschichte. Ich weiß, solche Aufrufe klingen gerade an Fest-Tagen wie diesen
mitunter etwas pathetisch. Gerade die vielen jungen Zuhörer will ich auch nicht etwa
auffordern, nun besonders eifrig die Daten der Thronbesteigungen im späten Mittelalter
auswendig zu lernen die habe ich mir auch nie gut merken können oder
bloß floskelhaft herzubeten, daß sich in der Vergangenheit begangenes Unrecht nie
wiederholen dürfe. Das eine merkt sich heute der Computer, das andere ist eine Selbstverständlichkeit,
deren bloßes Bekenntnis aber leider in der Praxis noch nicht allzuviel hilft.
Eher möchte ich mich auf einen bedeutenden englischen Historiker berufen, der gesagt
hat: "Die Geschichte allein ermöglicht uns eine Orientierung, und jeder, der ohne
sie auf
die Zukunft blickt, ist nicht nur blind, sondern gefährlich." Die Geschichte bleibt
der einzige Schlüssel, um zu begreifen, was wir sind und warum wir sind, was wir
sind: daß wir aus der Geschichte nicht aussteigen können und in ihr auch nicht herumspazieren wie in einem Selbstbedienungsladen, aus dessen Regalen man sich eben gerade mal
herausklauht, was einem gefällt.
Radikalismus bedient sich immer auch der Ängste und Unsicherheiten in Zeiten dramatischer
Veränderungen. Um die Ängste und Unsicherheiten, die allein schon der Begriff "Globalisierung"
auslösen kann, wissen wir. Ich betone deshalb gerne noch einmal, daß diese Globalisierung, die Internationalisierung der Märkte, Produktionen und Informationen,
eben nicht in erster Linie eine Gefahr ist, sondern vor allem
Herausforderung und Chance. Daß man die Hemmnisse in diesem globalen Wettbewerb benennen
soll, um sie abzubauen. Aber daß man unsere Stärken kennen muß, um auf sie aufzubauen.
Da ist ja in der Diskussion der letzten Zeit auch viel die Rede gewesen von den Vor-
und Nachteilen des "Standorts Deutschland". Mit Verlaub und einem Schuß Selbstkritik
ich habe das Schlagwort selbst oft gebraucht möchte ich eigentlich weg von diesem
Begriff des "Stand-Orts". Wir stehen ja nicht, sondern wir leben und bewegen uns.
Dieses Land ist uns doch nicht bloß ein Standort wie die Garage für einen Lastwagen
im Güterfernverkehr. Es ist uns ein "Lebens-Ort", eine Heimat, mit allem, was an
Liebe, Stolz und auch an gemischten Gefühlen dazugehört. Ein Sprungbrett, von dem
wir abspringen können in eine europäische, internationale, friedliche Zukunft. Aber auch, um
beim Sport zu bleiben, die Sandgrube, in der wir nach dem Weitsprung landen: weich
genug, um uns nicht wehzutun, aber mit hinreichend festem Boden unter den Füßen.
Und den hat dieses Land, vor allem in der Kreativität, dem Fleiß, dem Erfindungsreichtum und
der Kultur seiner Menschen.
Sich zu besinnen auf diese Stärken, auf die Phantasie, den Geist und die Arbeit unserer
Menschen - das gilt natürlich ganz besonders in bezug auf die Deutsche Einheit. Wenn
wir heute in aller Freude den neunten Jahrestag der staatlichen Einheit Nachkriegsdeutschlands feiern können, so wissen wir natürlich gleichzeitig, daß es mit der Angleichung
der Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse noch nicht so weit her ist und auch
mit der inneren Einheit noch nicht so weit, wie es nötig ist. Dies zu ändern und zu verbessern ist natürlich Auftrag an die Politik. Aber es sollte uns bei alledem
doch tausendmal wichtiger sein, die enormen Leistungen zu würdigen, welche die Menschen
in den nunja nicht mehr so "neuen" Bundesländern erbracht haben. Siehaben mit ihrer
friedlichen Revolution das SED-Zwangssystem abgeschüttelt und die Deutsche Einheit
ermöglicht. Durch ihre Energie und ihren Einsatzwillen sind die immensen Fortschritte
beim Wiederaufbau der Wirtschaft und der Infrastruktur im Osten Deutschlands erzielt
worden. Und letztlich war es die Solidarität aller, die diesen Weg ermöglicht hat, ohne
daß das Land darunter in den B ankrott oder in schreckliche Konfrontationen geraten
wäre.
Ihnen, Herr Bundeskanzler, möchte ich auch an dieser Stelle noch einmal meinen Respekt
aussprechen, Respekt für Ihren Anteil an der wiedergewonnenen staatlichen Einheit.
Ich denke, dies ist ein guter Augenblick, daran zu erinnern. Ich bin sicher, die
Menschen in Deutschland werden das nicht vergessen.
Heute ist kein Tag, an dem etwas beschönigt oder weggeredet werden soll. Denn die
Einheit ist noch nicht vollendet. Und vor allem die Massenarbeitslosigkeit bleibt
unsere Hauptaufgabe, deren Bewältigung unseren ganzen Elan erfordert. Aber ich wünsche
mir in aller Bescheidenheit, daß wir im neunten Jahr der Deutschen Einheit doch lernen,
den Respekt vor Lebensleistung und Aufbauarbeit der Menschen eher in den Vorder-grund
zu stellen als das Jammern über vermeintlich zu hohe "Transferleistungen". Und so
hoffe ich auch, daß nach überstandenem Wahlkampf der polemische Streit über den Länderfinanzausgleich,
das ewige Klagen der angeblichen "Geber" über die vermeintlichen "Nehmer" ein rasches
Ende nimmt. Ich habe es schon in meiner Antrittsrede als Bundesratspräsident gesagt: "Der Grundsatz der Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse sorgt auch für Stabilität in den wirtschaftlich stärkeren Regionen."
Das ist die eine Seite. die einer ordentlichen Buchhaltung, wenn man so will, und
die soll man ja nicht geringschätzen. Die andere habe ich in den vergangenen elf
Monaten als Präsident des Bundesrates auch ganz eindringlich erfahren. Das ist die
Bewunderung, die uns andere Länder für unser föderales System entgegenbringen. Sogar in England
hat, angesichts des deutschen Beispiels, das Wort "federal" einen guten Klang.
Es ist ja vielleicht nicht verkehrt, an einem solchen Tag nochmal Revue passieren
zu lassen, was ich als Repräsentant der deutschen Länder auf Reisen so erlebt habe.
Überall beneiden uns Menschenrechtler und redliche Politiker um den Artikel 1 unserer
Verfassung: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Für uns eine grundgesetzliche Selbstverständlichkeit,
die in dieser Welt leider keineswegs universelle Geltung hat.
Unsere Verfassung ist genauso lebensnah wie unsere Kultur. Schließlich waren es, jenseits
aller Welt- und Nationalpolitik, Kultur und Sprache, die der deutschen Teilung am
hartnäckigsten widerstanden haben. Ich meine damit die Literatur genauso wie die
Popmusik: Wir lesen es heute noch in den Romanen von Günter Grass und Stefan Heym; aber
es gibt auch den Schauder, der den Rücken herunterläuft, einer bestimmten Generation
jedenfalls, wenn das Lied "Am Fenster" der früheren DDR-Gruppe "City" gespielt wird.
Ich will mich ja nicht jünger machen, als ich bin. Die jungen Leute wissen besser,
was die neue deutsche Musik ist, die längst nicht mehr nach Ost und West fragt. Eines
gilt: Entgegen manchem Rat, unsere Nationalhymne werden wir nicht verändern. Für
eine andere habe ich eine besondere Vorliebe. Das ist die "Kinderhymne" von Bertolt Brecht.
Die gefällt mir deswegen, weil sie, anders als ihr Titel vermuten läßt, ziemlich
gut zum Ausdruck bringt, was ich mir unter einem Bewußtsein Deutschlands, das sich
als "erwachsene Nation" versteht, vorstelle.
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