BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG

Nr. 65-1 vom 3. Oktober 2000

Rede von Bundespräsident Johannes Rau


beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober in Dresden

Verehrte Gastgeber,
lieber Präsident Chirac,
Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren!


Mit der Einheit sind in der öffentlichen Erinnerung einige Namen verbunden: Lothar de Maizière, Wolfgang Schäuble, Hans-Dietrich Genscher, Rudolf Seiters, Richard Schröder, Markus Meckel, Hans-Jochen Vogel, Wolfgang Mischnick selbst von den bekanntesten Bauleuten der Einheit kann ich hier nur wenige nennen. Ihrer aller Leistung bleibt ebenso unvergessen wie die der vielen hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien und Verwaltungen, in den Kirchen, in den Verbänden und den Gewerkschaften, die für den Einigungsvertrag und an der Einheit gearbeitet haben. Ich weiß von vielen, dass für sie dieser Einsatz zu den beglückendsten Erfahrungen ihres Lebens zählt.

Dass es damals auch Zweifel und Kritik gab an den Bedingungen des Weges zur Einheit, aber auch am Ziel selber, das war angesichts der deutschen Geschichte nicht anders zu erwarten. Die konstruktive Kritik hat mitgeholfen, unseren Sinn für die Größe der Aufgabe zu schärfen.

Seitdem ist mit vereinter Kraft in den fünf neuen Ländern Außerordentliches geleistet und erreicht worden. Der erneuerte Glanz der Innenstädte, die moderne Infrastruktur, die Heilung der Umwelt all das spricht für sich. Ungezählte neue Betriebe sind entstanden, und längst kommen viele erfolgreiche Beispiele für phantasievolle Lösungen und Kreativität aus Ost-deutschland.

Freilich: Noch immer ist die Arbeitslosigkeit unerträglich hoch, im Osten doppelt so hoch wie im Westen. Aber wahr ist auch: Das sind Durchschnittswerte. In manchen ostdeutschen Regionen konnte die Arbeitslosigkeit mittlerweile wirksamer bekämpft werden als in einigen strukturschwachen Räumen im Westen. Dennoch fehlt es dem Osten insgesamt noch immer an der nötigen Wirtschaftskraft, und zu jeder ehrlichen Bilanz gehört, dass es bei der Arbeit am Wiederaufstieg der östlichen Länder vermeidbare Fehler, Ungerechtigkeiten und unnötige Kränkungen gegeben hat.

Dennoch kann sich nun wirklich niemand die alte DDR zurückwünschen. Wo es Enttäuschung über die Einheit gibt, da liegt das meist daran, dass wir in Ost und West viele falsche, viele unrealistische Vorstellungen hatten, dass wir uns also selber getäuscht haben. Diese Selbsttäuschung hatte viele Formen, von denen ich nur drei nennen will:

Die erste hat die gelernte DDR-Bürgerin Jutta Voigt beschrieben: Der Westen war die Erfindung des Ostens. Unerreichbar und deshalb unzerstörbar war die Illusion einer Welt voller schöner Dinge, die keinen Preis hatten", so sagt sie. Ein solches Paradies ist der Westen nie gewesen es gab längst nicht nur schöne Dinge, und alles hatte seinen Preis.

Die zweite Selbsttäuschung hat ihren Ursprung im Westen: Die Einheit sei aus der Portokasse zu bezahlen, ja man werde sogar bei der Privatisierung der Volkseigenen Betriebe noch Gewinne machen und diese Gewinne per Anteilsschein an die ehemaligen DDR-Bürger verteilen. Der Bund und die Länder haben über die Verteilung der erhofften Überschüsse aus dem Fonds Deutsche Einheit" lange und heftig gestritten. Dieser Streit um Überschüsse wirkt im nachhinein wie absurdes Theater. Niemand ahnte ja, wie viel die Sanierung und Privatisierung der Betriebe die Steuerzahler in West und Ost kosten würden.

Eine dritte Selbsttäuschung und zwar in Ost und West! - lautete, es genüge, Staat, Verwaltung und Gesellschaft in Ostdeutschland nach westlicher Fasson zu gestalten, und im Handumdrehen hätten sich alle Probleme und alle Verteilungskonflikte gelöst. Aber eine Glücks- und Gerechtigkeitsautomatik gibt es nur in schlechten Utopien, und zudem wurde mit der Übernahme der westlichen Strukturen auch so mancher Reformbedarf des Westens zur gesamtdeutschen Frage.

Freiheitliche Verfassungsordnungen leben von der ständigen Reform, vom geregelten Konflikt und vom vernünftigen Interessenausgleich. All das muss zusammenwirken, damit wir einem gerechten Miteinander so nah wie möglich kommen.

Viele unserer Selbsttäuschungen über die Leichtigkeit und über die Vollkommenheit der Einheit waren nicht töricht und waren nicht verwerflich - sie sind sogar verständlich, weil zumeist ja so viel guter Wille und so große Hoffnungen dahinterstanden. Aber diese Selbst-täuschungen dürfen nun nicht der Maßstab für die Zehnjahresbilanz der Einheit sein. Wer sich an die unermesslichen Probleme am Beginn des Aufbauwerks erinnert und heute mit offenen Augen durchs Land geht, der sieht, welche großartigen Veränderungen wir schon erreicht haben.

Das Fundament für diesen Erfolg haben alle Deutschen gelegt: Die Westdeutschen haben vor allem finanziell dazu beigesteuert. Die Bürgerinnen und Bürger in den östlichen Ländern haben aber mehr als den Solidaritätszuschlag bezahlt. Sie haben ihre Kraft und ihre Energie eingesetzt, um den Umbruch zu meistern und zu gestalten. Für sie änderte sich über Nacht fast der gesamte Alltag vom Mietrecht bis zum Führerschein, von der Neuberechnung der Rente bis zu der verwirrenden Fülle von Verträgen und Formularen. Millionen von Menschen haben sich beruflich weiterqualifiziert und neue Arbeit gesucht, wenn alte Betriebe schließen mussten; sie haben auch bei Rückschlägen nicht aufgegeben und neue Chancen auch der Selbständigkeit entdeckt. Dabei haben sie sich aber manchmal auch beklommen gefragt: Wie wird es in dieser neuen Welt wohl unseren Kindern ergehen?"

Der Aufbau hat allen in Deutschland einen spürbaren Beitrag und vielen persönliche Lasten und auch Opfer abverlangt. Aber - und das empfinden wohl gerade die jungen Menschen am stärksten - der Aufbau hat auch unser ganzes Land vorangebracht. Ich meine nicht nur den messbaren Zuwachs an Wohlstand und an Lebensqualität, sondern auch, wie durch gemeinsames Handeln wirklich zusammenwächst, was zusammengehört. So hat es Willy Brandt unmittelbar nach dem Fall der Mauer vorausgesehen.

Wir machen darum nicht viel Aufhebens, und vielen fällt es sogar ein wenig schwer, darüber zu sprechen. Aber es gibt Ereignisse, bei denen sich deutlich zeigt, was ich meine:
Wenn unsere Fußballnationalmannschaft spielt oder wenn deutsche Sportlerinnen und Sportler international um Medaillen und Pokale kämpfen, dann teilen wir bundesweit Freud und Leid.
Als das Oderbruch in Gefahr war, da half ganz Deutschland gegen die Flut.
Wenn der Nobelpreis an einen Schriftsteller oder an eine Forscherin aus Deutschland geht, dann weckt das landauf, landab Freude und Anerkennung.
Und wenn gar ein Wissenschaftler ausgezeichnet wird, der wie Professor Günter Blobel nach der Flucht aus Schlesien seine Jugend in Sachsen verbracht und in Frankfurt, München, Kiel und Tübingen studiert hat, der in New York forscht und lehrt und der dann sein Nobelpreis-Geld für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche stiftet, dann sind wir alle stolz auf ihn und spüren: Heimatverbundenheit macht uns alle reicher.

Die staatliche Einheit und alles, was damit im eigenen Land an Aufgaben auf uns zukam, haben uns freilich nicht mit Blindheit für die gemeinsamen Aufgaben und Herausforderungen in Europa und in der Welt geschlagen. Zum Glück haben alle politischen Kräfte in Deutschland die Einheit als Ansporn dazu begriffen, dass wir unserer neuen Rolle in der Staatengemeinschaft verantwortungsbewusst gerecht werden.

Das gilt besonders für Europa. Schon die Präambel des Einigungsvertrages sprach von dem Bestreben, durch die deutsche Einheit einen Beitrag zur Einigung Europas und zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten, in der Grenzen nicht mehr trennen und die allen europäischen Völkern ein vertrauensvolles Zusammenleben gewährleistet."

Heute können wir feststellen: Die deutsche Einheit und die europäische Einigung sind tatsächlich zwei Seiten einer Medaille geworden. Darum gilt für uns Deutsche genau wie für unsere europäischen Freunde und Nachbarn: Wir bauen auf Europa, und Europa kann auf uns bauen! Und ich füge hinzu: Das gilt auch und gerade für unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa und für ihren Weg in die Europäische Union. Wir werden nicht vergessen, dass ihr Einsatz für Freiheit und Menschenrechte entscheidend dazu mitgeholfen hat, die deutsche Teilung und die Spaltung Europas zu überwinden.

All die positiven politischen Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre stützen und stärken einander. Dazu kommt trotz der Probleme mit dem Außenwert des Euro und der Entwicklung des Ölpreises - ein insgesamt günstiges Wirtschaftsklima: Die Daten sind so günstig wie seit Jahren nicht. Die Arbeitslosigkeit geht zurück. Die Zahl der offenen Stellen nimmt zu. Die Steuerbelastung sinkt. Die deutschen Unternehmen verkaufen im Ausland soviel wie nie zuvor. Wir spüren neue Aufbruchstimmung in unserem Land. Die meisten Menschen sind offen für Erneuerung und Veränderung, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass soziale Sicherheit und Gerechtigkeit dabei nicht auf der Strecke bleiben.

Wir müssen die starken Kräfte nutzen, um unser Land auf seine künftigen Aufgaben vorzubereiten.
Wir brauchen eine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Ländern und eine solide Nachfolgeregelung für den Solidarpakt. Die deutschen Länder sollen auch in Zukunft kooperativ in einem Föderalismus zusammenwirken, der jedem einzelnen Land Handlungsspielräume gibt. Sie können und sie sollen eine wichtige Rolle spielen bei der Erneuerung unseres Landes und in einem Europa, dessen Kraft aus der Vielfalt seiner Nationen und Regionen kommt.
Unsere Schulen und Hochschulen brauchen zusätzliche Unterstützung, damit sie auch künftig jedem einzelnen bestmögliche Lebenschancen sichern, damit sie mithelfen, dass unsere Gesellschaft nicht in Gewinner und Verlierer auseinander fällt.
Und wir müssen uns insgesamt wieder mehr auf das besinnen, was unser Gemeinwesen zusammenhält und was seine Bindekräfte stärkt. Im gesellschaftlichen Zusammenhalt liegt auch die wichtigste Gewähr für die Freiheit und für den Schutz jedes einzelnen und für sein Streben nach Glück. Die Stärkung der gesellschaftlichen Bindekräfte hat viele Facetten.
Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich stärker in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen, aber wir brauchen auch erweiterte demokratische Beteiligungsrechte dafür.
Wir müssen den Blick schärfen für die Rechte und die Pflichten des einzelnen in der Gesellschaft, aber wir müssen auch das ehrenamtliche Engagement stärker fördern.
Wir müssen neue und bessere Angebote zur Integration von Ausländern machen, die auf Dauer hier leben und arbeiten, aber sie müssen auch bereit sein, diese Angebote anzunehmen.

Wir müssen das Menschenmögliche tun gegen alle Formen der Fremdenfeindlichkeit und der Gewalt gegen Schwächere. Wir müssen das Recht achten und durchsetzen und die Gewalt ächten und verhindern. Wir feiern heute, dass keine Grenze mehr mitten durch Deutschland geht, an der auf Menschen Jagd gemacht wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass mitten in Deutschland wieder Jagd auf Menschen gemacht wird.




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