Autor/enKretschmann, Johannes
TitelWesen und Methode des freien Gesamtunterrichts. in: Pädagogische Warte. Zeitschrift für Erziehung und Unterricht, Lehrerfortbildung und Schulpolitik. Seiten 799-809
OrtOsterwieck am Harz
Datum1927.08.01
AnmerkungenErster Gesamtunterricht Berthold Ottos außerhalb der Schule. Verlegung dieses Unterrichts in die Schulezur Entlastung der Eltern und Erwachsenen außerhalb der Schule. Art und Weise des Gesamtunterrichts. Gesamtunterrichtsprotokoll vom 09.08.1926 ..................................................... [II.1.] "Immer dann, wenn ein Kind eine Frage stellt, dann stehen die Erkenntnispforten seines Geistes flügeloffen, und wer sie dann mit rauher Hand zuschlägt, der tut Schlimmeres als der, der seinem hungrigen Kind einen Feldstein gibt, wenn es ihn um eine Stulle bittet. Könnte man jeden Bahnbeamten, jeden Förster; jeden Postboten, jeden Feuerwehrmann, jeden Gärtner, jeden Kaufmann - kurz jeden Erwachsenen davon überzeugen, daß sie ihr Wissen verzehnfachen, wenn sie erkenntnishungrigen Kindern davon mitteilen, so oft sich ihnen Gelegenheit dazu bietet, so wäre für die Volksbildung Ungeheures gewonnen. Und wären dazu dann alle Eltern und alle Erwachsenen, mit denen das Kind auf der Straße, in der Eisenbahn usw. zusammenkommt geistig und psychologisch gebildet genug, dann - dann wären besondere Unterrichtsanstalten für Kinder vielleicht ganz überflüssig, selbst wenn man an die technischen Fertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen denkt. Die Kinder würden dann auf vernünftige Fragen überall sachgemäße Auskunft erhalten." ..................................................... "Der Geist des Kindes wächst ganz von selbst, ohne unser Zutun. Der Wachstumsvorgang läßt sich nichtt nach festgelegten Plänen oder Gesetzen regeln oder erzwingen." ..................................................... [II.8.; Altersmundart] "Kindern ist das Reden und Fragen immer gestattet, sofern es nicht besonders verboten ist. So wird bei mir jede Stunde erteilt. Aber nicht jede Stunde heißt Gesamtunterrichtsstunde. Es sind in meiner Schule bisher wöchentlich 3 Stunden von vornherein als Gesamtunterrichtsstunden angelegt worden. Was in diesen Stunden dran kommt, weiß ich nicht. Ich trete ein, setze mich mit an den Tisch, und wer ein Anliegen hat, der bringt es vor. Jede Frage wird, ohne die Nebenabsicht, eine Lektion daraus zu machen, so beantwortet, wie es in jeder Gesellschaft Mode ist, mit der einen einzigen Einschränkung, daß ich mich bei meiner Antwort bezüglich der Sprache stengstens nach der Altersstufe der Fragenden richte." ..................................................... "Fragen, die nicht aus wirklichem Erkenntnistrieb kommen, sondern nur aus Fragesucht oder aus Fragemode, werden ohne Umstände - am besten etwas scherzhaft - abgetan. Eine Gesamtunterrichtsstunde ist kein Kaffeeklatsch. Es gibt Tage, da fragen die Kinder nichts. ... In solchem Falle fange ich mit großer Selbstverständlichkeit über irgendein Thema an zu reden, fahre darin fort oder wechsele nach einiger Zeit das Thema, wie's gerade notwendig wird. Auf diesen Fall muß ich also vorbereitet sein, ich muß wissen, was ich beginnen will, wenn die Kinder keine Anregungen geben." ..................................................... "Beim freien Gesamtunterricht geht die Initiative grundsätzlich vom Schüler und nur in Ausnahmefällen vom Lehrer aus. Und der Lehrer hält nicht hinterm Rücken das Stoffsystem verborgen; das Kind dominiert." ..................................................... "Jeder Geist wächst als Einzelgeist, aber gleichzeitig stets als Stück des Volksgeistes. Die Gesetze dieses Wachstums müssen noch viel mehr als bisher Gegenstand der Forschung werden." ..................................................... "Solange in einer deutschen Schule noch ein Kind eine Strafe für Unaufmerksamkeit stumm hinnehmen und erdulden muß, stimmt's in dieser Schule nicht." ..................................................... [II.1.] "Für viele Volksschüler ist die Schule der einzige Ort, an dem sie mit kenntnisreichen und denkgewohnten Menschen zu verkehren Gelegenheit haben, und darum soll das Kind alle seine Anliegen, die es anderswo leider nicht vorbringen kann, in der Schule vorbringen. Wenn man das will, nun dann muß man natürlich auch imstande sein, den Fragen der Kinder einigermaßen stand zu halten, sonst ist es besser, man unterläßt solche Versuche." ..................................................... "Kein Mensch verlangt, daß der Lehrer alles weiß, im Gegenteil, wir stehen schon viel zu sehr im Verruf der Neunmalklugheit. Nimmts aber ein Lehrer freiwillig auf sich - gezwungen darf er nie dazu werden - freien geistigen Verkehr mit Kindern zu pflegen, dann muß er auch die Voraussetzungen dazu kennen." ..................................................... "'Daß man sich auf solchen Unterricht in der herkömmlichen Weise vorbereiten kann, geht nicht und wird nie gehen. Darum ist der Unterricht, den wir erstreben, viel schwerer als irgendein bisher erteilter Unterricht. - Im Verhältnis des Kindes zum Erwachsenen volle Geistesfreiheit wirklich zu gewähren, ist nicht leicht. Es erfordert Übung in der Selbstbeherrschung und Übung in der Beobachtung des kindlichen Lebens und Eingehen auf die Gedankenwelt des Kindes. - Eine solche Gesamtunterrichtsstunde kann dann aber wirklich als eine Urzelle des Volksgeistes gelten."
ArchivB.-O.-S./II/B/H/IV/1
SignaturB.-O.-S./II/B/H/IV/63
SchlagworteAlter
Altersmundart
Berthold-Otto-Schule
Dorfschule
Erkenntnistrieb
Gesamtunterricht
Interesse
Schule
Stundenplan
Urzelle des Volksgeistes
Zeitschrift "Die Warthe"
Abteilungen2